Mit David Keith Lynch geht einer der faszinierendsten Künstler der Populärkultur von uns. Dieser Nachruf soll seiner schillernden Persönlichkeit, seiner umfassenden künstlerischen Betätigung in Film, Fernsehen und unzähligen weiteren Bereichen, vor allem jedoch seinem ausgeprägten Charakter und Eigensinn gedenken.
Ein Finger betätigt den matten weißen Knopf, körperlos verkündet die Stimme des Universums in nüchternen Erkenntnis: David Lynch ist tot. Ich weiß nicht, ob ich ein geeigneter Kandidat bin, um einen Nachruf auf diesen Ausnahmemenschen zu schreiben. Zum einen war ich nie der glühende Verehrer wie manch anderer, obwohl ich mich gerne von seinen Mysterien habe mitreißen lassen. Zum anderen drängt sich mir im Grunde meines Herzens der Verdacht auf, dass man ihm und seinem Werk aufgrund des stark ausgeprägten audiovisuellen Charakters kaum in Wort und Schrift gerecht werden kann. David Lynch war ein Universalkünstler, ein multimedialer Polymath, eigensinnig, kapriziös und unbedingt idiosynkratisch. Von Videokunst, Malerei, Fotografie, Musik, über Spiel- und Dokumentarfilm, Fernsehen, Werbeclips, Comicstrips bis hin zu Büchern, YouTube-Flausen und sogar Möbeldesign wandelte er auf unzähligen wie weitverzweigten und sich unablässig kreuzenden Pfaden, die er womöglich auf unnachahmliche Weise noch viel mehr vereinnahmte als sie ihn. Nicht selten stieß er damit auf Widerstand oder allerwenigstens Unverständnis, denn eines ist klar: Lynch war weder leichtverdaulich noch publikumsfreundlich oder gar kommerziell. Nichtsdestotrotz umschwirrt das Wort Kult sein Schaffen wie ein Trabant, am meisten seine Filme, derweil seine Studiokunst vor allem im späteren Verlauf seiner Karriere sein Publikum zu begeistern wusste.
Kafkaesk, fellinesk, lynchian
Ein Indiz für seinen kulturellen und populärkulturellen Stellenwert stellt dar, dass sein Name zu einer eigenen Gattungsbezeichnung geworden ist: So wie es kafkaesk oder fellinesk gibt, ist „Lynchian“ zu einem eigenen bedeutungsvollen, assoziativ aufgeladenem Begriff geworden, der es unter anderem in das Oxford English Dictionary geschafft hat – wobei keineswegs klar umrissen ist, wie der Begriff zu definieren ist oder was genau er umfasst; abgesehen davon, dass sich das Beschriebene Charakteristiken der Filme oder Fernsehproduktionen Lynchs teilt oder imitiert. Insofern hat er sich eine gewisse Uneindeutigkeit, eine terminologische Unschärfe und Offenheit für Interpretation und persönliche Erfahrung offengehalten – ganz wie die Filme und Kunstwerke seines Namensvetters weniger Luzidität als Fluidität aufweisen. Lynchs Werke sind bildhafte Installationen und Soundscapes, die sich über verschiedene Ebenen erstrecken. Sie sind in mehreren Schichten aufgebaut und miteinander vernetzt, wo die Tonlandschaft das Visuelle, der Ton das Wort und das Gesagte das Gezeigte reziprok durchwirkt. Nicht von ungefähr sind etwa seine Filme sedimentär aufgebaut: Sie sind an der Oberfläche in einer beinahe banalen Alltagswelt angesiedelt, darunter jedoch durchzogen von einem Netzwerk aus verborgene Kammern. Es sind abgeschlossenen, von der Außenwelt abgeriegelten Orte, sinistre Logen, Treffpunkte für geheime Zusammenkünfte und Kabale, fast immer Schauplatz von etwas Abgründigem oder Bedrohlichem, das unter der braven wie heilen Welt brodelt und lauert.
Traumhaft, alptraumhaft, surreal
Die Stimmung in Lynchs Welten oszillierte immerfort zwischen der wohlgeordneten Oberwelt und dem Surrealen, Traumhaften oder vielmehr Alptraumhaften, dem irrationalen Gegenpol de profundis zu unseren fassadenhaften Oberwelt. Er brach mit den Regeln eines herkömmlichen Raum-Zeit-Kontinuums, ging an die Substanz des Unterbewussten und der Tiefenpsychologie. Eine geradlinige Erzählung schien in den meisten Fällen undenkbar, oft genug überlappten sich zeitliche Ebenen vielfältig, waren Räume wie der Realität enthoben nur über metaphysische Umwege oder auf Traumpfaden erreichbar. Das Telefon wurde zum bizarren Sprachohr, über das asomatische Stimmen unmögliche Distanzen überwanden und entrückte Orte erreichten, um kryptische, gravierende Botschaften weiterzugeben. In Finsternis getauchte schnurgerade Straßen verloren sich kurvenlos, ohne Abzweigung und ohne Ausfahrt in einer Negativwelt ins Nirgendwo. Figuren und separierte Aspekte ihres Charakters, insbesondere die düstersten und unheimlichsten aus den Abgründen des Ichs, manifestierten sich in Zerrbildern und Zerrspiegeln; ein Alter Ego, dass uns direkt gegenüberstand und die finstersten Begierden und Obsessionen mit sich an die Oberfläche trug. Lynchs Spiel mit der Realität, mit Zeit und Raum, dem Verborgenen und Unterbewussten, dem Oberflächlichen und den Untiefen bot selten einen sicheren rationalen Anker. Sobald sich jemand auf sicherem Terrain glaubte, ließ er das hauchdünne Eis unter den Füßen brechen. Unversehens landete er im roten Raum oder der schwarzen Loge.
Das filmische Alter Ego
Vieles davon schien den Empfindungen und dem Kopf Lynchs direkt entsprungen zu sein, gleich der Offenlegung eines kryptischen Inneren, einem verklausulierten Seelenstriptease oder einem „coming to terms“ mit den eigenen Dämonen. Gleich in seinem ersten Spielfilm Eraserhead schien Lynch so zum Beispiel seine Erfahrungen eines jungen gestressten Vaters in der prekären Umgebung des von Armut und Verbrechen geplagten Fairmount, einem Stadtteil der US-amerikanischen Metropole Philadelphia, zu verarbeiten. Viele seiner Protagonisten traten in Gestalt filmischer Alter Egos seiner selbst auf, wozu unter anderem Jack Nance, William James „Bill“ Pullman und vor allem natürlich Kyle Merritt MacLachlan zählen. Immerzu waren sie Akteure in einem thematisch abgesteckten künstlerischen Rahmen, an dem sich in erster Linie Lynch als sein Schöpfer selbst verwirklichte. Wo Lynch draufstand, war auch immer Lynch drin, bis zur letzten Konsequenz. Eine Konsequenz, die er sich freilich zunächst schmerzlich erarbeiten musste, nachdem ihm seine erstes Großprojekt, die Kinoadaption von Frank Patrick Herberts Dune 1984 vor Augen geführt hatte, was es bedeutet, im Studiosystem zu arbeiten – und wie wenig Raum es einem Filmschaffenden für Individualismus lässt. Danach war er für Kompromisse nicht mehr zu haben: Wenn er nicht seine ureigensten Vorstellungen realisieren durfte, war es das Projekt nicht wert begonnen zu werden. Punkt.
Erste Erfolge, erste Niederlagen
Letzteres mag genau der Grund sein, weshalb er zwischen 1977 und 2006 insgesamt bloß zehn Filme drehte, sich ansonsten in die Welt der Kunst und des Kurzfilms zurückzog, wo er seine künstlerische Freiheit weitaus ungezügelter ausleben konnte. Sein Erstlingswerk Eraserhead sorgte 1977 für Furore, die bizarren Bilder einer industriellen Alptraumkulisse, das dichte Sounddesign, sowie die abstrakte solipsistische nach Außenkehrung wiesen frühzeitig wesentliche Charakterzüge seiner eigenen Art des Filmemachens auf und haben bis heute nichts von ihrer verstörenden und hermetischen Sogkraft verloren. Während der Vorproduktion von Eraserhead litt Lynch unter enormer Anspannung, für die er schließlich in der transzendentalen Meditation des Maharishi Mahesh Yogi ein Ventil fand und für die er Zeit seines Lebens einer der größten Fürsprecher war. Sein zweiter Film Der Elefantenmensch startete 1981 sogar als großer Oscar-Favorit unter anderem für die beste Regie ins Rennen, ging letzten Endes jedoch leer aus. Nach der daran anschließenden bitteren Erfahrung mit Dune widmete sich Lynch schließlich dem Zyklus seiner ureigenen Filmkunstwerke, die er mit einem Maximum an künstlerischem Einfluss und persönlichem Stilwillen realisierte. Kompromisslos „lynchian“ trugen sie fortan ausnahmslos seine unverkennbare Handschrift und waren erfüllt vom Charakter des Regisseurs und Kunstschaffenden.
Film Noir, Hommage und verdammt guter Kaffee
1986 entstand Blue Velvet, der das Paradigma des Lynch’schen Filmkosmos bereits prononciert ausstellt. MacLachlan spielte als archetypischer Lynch’scher Protagonist die Hauptrolle in einem modernen Film Noir, in dem sich triste Interieurs und ein schillerndes Nachtclubleben abwechselten. Letzteres nahm vorweg, welche hervorstechende Rolle Musik, varietéartige Bühnenauftritte und Show-Vorhänge im Verlauf seiner Filmkarriere einnehmen sollten. Isabella Fiorella Elettra Giovanna Rossellini ist darüber hinaus das erste Exemplar der Lynch’schen Femme fatale. Sie diente als Schablone für die komplexen Frauenfiguren, die von nun an in seinen Filmen immer größere Rollen spielten, bis sie und ihre Schicksale in Twin Peaks – Der Film, Mulholland Drive und Inland Empire zum wahren Kern reiften. 1990 gewann Lynch mit Wild at Heart, einer wilden Der-Zauberer-von-Oz-Hommage mit Nicolas Cage und Laura Elizabeth Dern in den Hauptrollen, die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes in einer nicht unumstrittenen Entscheidung. Nur zwei Jahre später erfuhr Twin Peaks – Der Film am selben Ort breitseitige Ablehnung und wurde bei seiner Erstaufführung ausgebuht. Mit der Mutterserie Twin Peaks konnte Lynch hingegen zwischen 1990 und 1991 beim TV-Sender ABC große Erfolge feiern: Das Mysterium um den Mord an Laura Palmer lockte die Zuschauer reihenweise vor den Bildschirm, obwohl Lynch beim besten Willen nicht mit seinen grillenhaftend Kaprizen geizte. Bis heute zählt Twin Peaks zu seinen kommerziell erfolgreichsten Unternehmungen, wovon ein Berg von Auszeichnungen und eine treue Fangemeinde zeugt, die unvermindert leidenschaftlich über die vielen liebgewonnenen skurrilen Charaktere und die ungeklärten Geheimnisse des Orts diskutieren.
Meisterwerke des surrealen Thrillers
1997 und 2001 legte Lynch mit zwei Filmen nach, die seinen Status als Meister des surrealen Thrillers zementierten: Lost Highway und Mulholland Drive. Beide zählen zu seinen verworrensten, rätselhaftesten wie schwer verständlichsten Produktionen, die in mannigfacher Weise interpretiert und rezipiert wurden. In Kreisen von Filmliebhabern gelten sie mitunter als das Nonplusultra des sogenannten Mindfuck-Films, der einen sprach-, orientierungs- und verständnislos zurücklässt. Lost Highway erzählt die verschachtelte Geschichte einer zerstörerischen Begierde mit Anleihen am klassischen Film Noir, angereichert um Ideen von Seelenwanderung, Dopplungen à la Vertigo, mysteriösen Gestalten und unterlegt mit Musik von David Bowie und Rammstein. Mulholland Drive wiederum untermauerte Lynchs Status als Frauenregisseur, wenn er in seiner Abrechnung mit Hollywood à la Billy Wilders Boulevard der Dämmerung Naomi Ellen Watts an ihren Träumen einer aufstrebenden Jungschauspielerin zerbrechen ließ – neben anderen hintergründigen Storysträngen, die von Schockerlebnissen bis zum schwarzen Humor reichten und wesentlich mehr Fragen aufwarfen als beantworteten. Zu Beginn als ein weiteres Fernsehserienprojekt für ABC geplant, scheiterte Mulholland Drive hingegen an den Erwartungen der Produzenten an ein zweites Twin Peaks und wäre mithin in der Produktionshölle untergegangen, wäre Canal Plus nicht in die Bresche gesprungen, um die Pilotfolge als Kinofilm doch noch zu realisieren.
Ein Tausendsassa
Zwischen diesen beiden berüchtigten Meisterwerken des abgründigen, surrealistischen Thrillers lieferte Lynch 1999 mit Eine wahre Geschichte – The Straight Story seinen vielleicht zugänglichsten Film. Es handelt sich hierbei um einen gemächlichen, nahezu meditativen Roadmovie basierend auf der wahren Geschichte des Rentners Alvin Boone Straight. 2006 beschloss Inland Empire seine Kinokarriere, ein Drama, das stilistisch wieder näher an Lost Highway und Mulholland Drive heranrückte. Lynch wandte sich hiermit unter dem Kommentar, Film sei wie ein Dinosaurier in einer Teergrube, endgültig vom Zelluloidfilm ab: Von nun an sollte er nur noch Kurzfilme auf Digitalfilm drehen, die ihrerseits nicht weniger verquer ausfielen, sondern im Gegenteil das Surreale, das Merkwürdige und das Groteske noch intensiver umarmten. Neben Film und Fernsehen zeichnete Lynch außerdem von 1983 bis 1992 den Comicstrip The Angriest Dog in the World über einen vor Wut in regelrechter Katatonie erstarrten Hund, hielt viele groß angelegte Vernissagen ab (in einem Bild verarbeitete er die Kadaver echter Tiere) und veröffentlichte mehrere Musikalben solo oder in Kollaborationen. Außerdem absolvierte er einen Gastauftritt in Louis C. K.s Anti-Sitcom Louie, drehte Werbespots wie die absonderliche PlayStation-2-Werbung Welcome to the Third Place, tourte mit einer fotografische Wanderausstellung, die schattenhaft verzerrte Aktaufnahmen von Frauen in fetischisierten roten Lack-Stilettos aus dem Hause Christian Louboutins zeigte und gestaltete einen Nachtclub in Paris mit dem Namen Silencio, benannt nach der berühmte Szene aus Mulholland Drive. Und, und, und vieles mehr.
Was uns bleibt
All dies zeigt: David Lynch war ein Ausnahmekünstler, ein Tausendsassa, ein Eigenbrötler und so ausdrucksstark eigensinnig und charakteristisch wie kaum ein Zweiter. Was ich hier von ihm geschrieben habe, kratzt höchsten an den Ausläufern des Gebirges, den sein Œuvre bildet. Es ist ein bestenfalls oberflächlicher Eindruck eines außergewöhnlichen, exzentrischen, bestimmt nicht immer leicht verträglichen Mannes, der neben seinen Werken, die auf ihre eigentümliche Art und Weise für sich sprechen, mit urigen Kommentaren, Sentenzen und Aphorismen von sich reden machte. „Lynchian“ ist eine eigene Kategorie künstlerischen und ästhetischen Schaffens geworden, ein Etikett, ein Markenzeichen, eine eigene Stilbezeichnung, ein Label und nicht zuletzt ein Way of Life. David Lynch wurde verehrt, ästimiert, nachgeahmt, gleichermaßen geschätzt und gefürchtet. Die Abgründe, in die er uns stürzte und an denen wir teilhaben durften, erregten, verstörten und verunsicherten uns. Was sie aber über allen anderen Dingen taten war, dass sie uns hypnotisch anzogen, faszinierten, intellektuell und seelisch fesselten und beschäftigten. Mit ihm verliert unsere Welt einen großartigen Universalkünstler, der sich auch im Angesicht einer wachsenden Kommerzialisierung seinen Charakter, seine Eigenheiten, seine Integrität bewahrt hatte und der uns etwas unschätzbar Kostbares hinterlässt: Den Eigensinn der Kunst und des Künstlers. Silencio!
Geschrieben von Jan Bantel