Regisseur Kon Satoshi gehörte zu den einflussreichsten japanischen Anime-Künstlern. Mit seinem Film Millenium Actress aus dem Jahr 2001 gelingt es dem Regisseur, sowohl mit beeindruckenden Bildern als auch der inhaltlichen Gestaltung gänzlich zu überzeugen.
Um die Jahrtausendwende werden die Studios der Filmproduktionsfirma Gin’ei abgerissen. An diesem Ort sind unzählige Filme entstanden und viele Erinnerungen werden wach. Der ehemalige Mitarbeiter Tachibana Genya wird sich in diesem Moment den Leistungen der im Jahr 1923 geborenen Schauspielerin Fujiwara Chiyoko bewusst. Um das Ende der Studios als Zeitzeugnis festzuhalten, beschließt er, zusammen mit dem Kameramann Ida Kyōji, eine Dokumentation über Fujiwara zu drehen. Sie reisen zum abgelegenen Haus der inzwischen fast achtzigjährigen Schauspielerin, die schon lange keine Interviews mehr gegeben hat. Im Gespräch mit Fujiwara erfahren Tachibana und Ida allerhand Einzelheiten über ihr Leben. So springt der Film chronologisch immer wieder zurück in die Vergangenheit und schildert ihr Leben beginnend mit der Geburt während des großen Kantō-Erdbebens. Es folgen Auszüge aus ihrer Jugend, wie sie etwa einem Banditen Unterschlupf im Schuppen ihres Großvaters gewährte, wie sie sich in ihn verliebt hat und durch sein Verschwinden inmitten des Zweiten Weltkriegs die Entscheidung getroffen hat, Schauspielerin zu werden. Bei Propagandafilmen angefangen spielt sie später in Samuraifilmen mit. Sie wird zu einer der wohl bekanntesten Akteurinnen der Filmwelt, bis sie sich schließlich ganz aus der Öffentlichkeit zurückzieht.
Träume und Wirklichkeit
Anhand dieses kurzen Abrisses wird klar, dass Millenium Actress als Biografie einer nahezu rein fiktiven Schauspielerin fungiert. Als Vorbild für Fujiwara diente die Schauspielerin Hara Setsuko, die zwischen den Jahren 1935 und 1962 ebenfalls nur eine verhältnismäßig kurze Zeit aktiv war und sich nach dem Tod von Regisseur Ozu Yasujirō von der Filmwelt fernhielt. Es gibt hierbei ein paar biografische Parallelen, die filmkundige Zuschauer sofort erkennen. Zum Verständnis des Films sind diese Ähnlichkeiten aber nicht notwendig, denn weitgehend ist das Werk als eigenständige Erzählung zu betrachten. Hier zeigt sich auch die Kreativität von Regisseur Kon Satoshi, von dem ebenso die 2004 entstandene Fernsehserie Paranoia Agent stammt. Für die Charaktere vermischen sich während des Interviews, das sich über die gesamte Laufzeit von 86 Minuten streckt, die Grenzen zwischen ihrer Realität und der für sie fiktionalen Filme immer mehr. Spricht Fujiwara über ihr Leben, so fängt der Film diese Szenen biografisch ein, während Tachibana und Ida im Hintergrund auftreten und das Geschehen filmen und passiv kommentieren. Werden Ausschnitte aus den Filmen gezeigt, so mimen Tachibana und Ida diverse Schauspielerrollen und nehmen aktiv am Geschehen teil. So wird der Zuschauer auf eine Reise mitgenommen, in der er auch selbst Unterschiede erkennen muss.
Kon Satoshi und seine Filmkunst
Es ist wirklich faszinierend, wie flüssig die Übergänge zwischen einzelnen Szenen sind. So verliert Fujiwara am Set einen Schlüssel, der für sie eine wichtige Bedeutung hat. So wollen die Mitarbeiter beim Dreh mehr über den Schlüssel erfahren. Mit ähnlichen Rufen wird die Schauspielerin als eine Lehrerin von ihren Schülern im nächsten Augenblick gefragt. Wenig später wird sogar Fujiwaras Realität zur Bühne. Da kann einem als Zuschauer auch schon mal schwindelig werden. Millenium Actress setzt durchweg auf dieses Konzept, was ihn in vielen Punkten zumindest im Anime-Sektor einzigartig macht. Erwähnenswert ist hierbei auch die stilistische Darstellung der einzelnen Sequenzen, denn auch wenn die Übergänge fließend sind, können manche Stellen des Films klar identifiziert werden. Die Filme im Film wirken inszenatorisch und vor allem effektreich dargestellt. Wenn auf Ida ähnlich wie Mifune Toshirō im Kurosawa-Akira-Meisterwerk Das Schloss im Spinnwebwald aus dem Jahr 1957 mit Pfeilen geschossen wird, ist das nicht nur eine Hommage, sondern eine ganz bewusste Designentscheidung. Kons Werk spielt, insbesondere bei Fujiwaras Suche nach der Liebe, mit vielen Metaphern und nutzt in diesem Zuge allseits bekannte Bilder von Filmen wie Gojira, die sich seit Jahrzehnten in das Gedächtnis von Filmfans gebohrt haben. Ganz großes Kino!
Meisterwerk für die Ewigkeit
Auch weitere Stilmittel wie die filmische Umsetzung von Szenen, die wie Farbholzschnitte wirken, stechen positiv ins Auge. Beim qualitativ hochwertigen Film in der Auflösung von 1080p stimmt einfach alles. Das bildschirmfüllende Werk im 16:9-Format beeindruckt in puncto Bildtechnik nicht nur mit weiteren Stilmitteln, die mehr in Realfilmen denn in Anime auftreten, sondern auch mit reichlich animierten und erwachsen wirkenden Figuren. Dazu kommt der absolut paralysierende Soundtrack von Hirasawa Susumu. Wer die wenig später entstandenen Werke Paprika oder das bereits erwähnte Paranoia Agent gesehen hat, dem dürften einige Klänge des Elektropop-Musikers bekannt vorkommen. Hirasawa unterstreicht jedwede Szene mit einer markanten Note im Tonformat DTS-HD Master Audio 5.1, was den Film mitreißend, abenteuerlich, nostalgisch und zum Teil melancholisch macht. Als Boni gibt es auf der Blu-ray Disc zwei Interviews; einmal ein neunminütiges Gespräch mit Produzent Maki Tarō, und zum anderen ein circa 33 Minuten langes Interview mit Projektentwickler Maruyama Masao. Beide Interviews geben ein besseres Verständnis des Films des 2010 verstorbenen Regisseurs. Daneben liegen dem Film ein Poster und ein Booklet mit Texten von Jonathan Clements und Andrew Osmond bei, die sich biografisch mit Kon beschäftigt haben und interessante Hintergründe zum Aufbau und zur Inspiration von Millenium Actress erläutert. Dies zeigt nur einmal mehr, wie beeindruckend dieses Meisterwerk eigentlich ist.
Geschrieben von Eric Ebelt
Erics Fazit (basierend auf der Blu-ray-Fassung): Regisseur Kon Satoshi ist leider viel zu früh verstorben. Anime-Fans würden viel dafür geben, nur noch einen weiteren Film seines Schaffens zu sehen. Dies wird wohl jedem beim Anschauen von Millenium Actress ganz besonders deutlich. So erzählt der 86-minütige Film chronologisch den Lebensweg einer fiktiven, aber auf einem realen Vorbild basierenden Schauspielerin, die sich irgendwann aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Hierbei vermischt der quasi biografische Film gekonnt die Realität der Charaktere mit der filmischen Welt, was anhand fließender Übergänge nicht nur inszenatorisch eindrucksvoll ist, sondern dem Film auch erzähltechnisch in eine hohe und nicht aufzuhaltende Geschwindigkeit lenkt. Millenium Actress ist ein gefühlvoller wie mitreißender Film, in dem es von Anspielungen, Metaphern und filmischen Stilmitteln nur so wimmelt. Zurückzuführen ist dies wohl auf Kons und Maruyama Masaos Liebe zu Filmen, die in diesem Werk womöglich ihren Höhepunkt erreicht hat. Millenium Actress ist schlicht ein Meisterwerk, das von jedem Anime- und Filmliebhaber gewürdigt werden sollte.
Vielen Dank an Kazé Anime für die freundliche Bereitstellung eines Rezensionsexemplars von Millenium Actress!
Millennium Actress empfand ich damals, als ich ihn zum ersten Mal sah (schätzungsweise 15 Jahre oder so her), als besten Anime, den ich je gesehen habe. Ist natürlich ein fragwürdiger Superlativ, aber ich wäre gespannt, ob ich das heute zumindest noch ähnlich empfinde. Ich sollte den Film also bei Gelegenheit mal wieder schauen. Danke für das wunderbar geschriebene Review!
@Sylvio Konkol
Vielen Dank für deinen freundlichen Kommentar. Ich habe vor ein paar Tagen selbst nochmal mit Freunden über diesen Anime-Film gesprochen. Einer davon hat ihn sogar vor wenigen Tagen noch einmal gesehen und war wieder hellauf begeistert. Verrate uns doch gerne, sobald du den Film auch nochmal gesehen hast, wie du ihn heutzutage wahrgenommen hast. Wir wünschen dir viel Spaß beim Anschauen!