Review: Cyberpunk 2077

Als Cyberpunk 2077 am 10. Dezember 2020 erstmals veröffentlicht wurde, litt das Rollenspiel noch an zahlreichen Bugs. Von diesen gibt es anderthalb Jahre später zwar auch auf der PlayStation 5 noch welche, doch sind diese nur noch der kalte Tropfen auf den heißen Stein.

Bei Entwicklerstudio CD Projekt Red lag zumindest während und gegen Ende der Entwicklung von Cyberpunk 2077 wohl einiges im Argen, denn der Zustand, in dem der Titel im Dezember 2020 veröffentlicht wurde, ist beispielhaft dafür, was passieren kann, wenn Videospiele vorzeitig auf den Markt gebracht werden. Das Ansehen in der Branche, dass sich die polnischen Entwickler mit The Witcher III: Wild Hunt erarbeitet haben, war von einem Tag auf den anderen beschädigt. Im Vorfeld wurde noch frech behauptet, dass das Spiel auf der PlayStation 4 und der Xbox One überraschend gut laufen würde. Bei Release war der Titel aber kaum spielbar, weshalb über Monate und Jahre hinweg Updates nachgereicht worden sind, die die Performance nach und nach verbesserten. Zumindest auf der PlayStation 5 läuft das Rollenspiel im Jahr 2022 bis auf ein paar kleine Ausnahmen ziemlich rund. Nach über einhundert Stunden können wir sagen, dass es sich bei Cyberpunk 2077 wahrhaftig um eines der besten Rollenspiele aller Zeiten handelt. Da stellt sich die Frage, warum dieser Qualitätsanspruch nicht schon vor Veröffentlichung des seit 2012 in Entwicklung befindlichen Spiels gegriffen hat. Auch wenn die Hintergründe bei der Entwicklung inklusive vieler Überstunden sehr zu kritisieren sind, zeigt Cyberpunk 2077 mittlerweile, wie viel Liebe im Spiel steckt.

Drei Lebenswege ohne Folgen

Zu Beginn des auf zwanzig bis einhundert Spielstunden ausgelegten Rollenspiels kreieren wir unsere eigene Spielfigur, die auf den Namen V hört. Wir können das Aussehen unseres Avatars bis ins kleinste Detail ausarbeiten. Dazu zählen nicht nur Augenfarben, sondern tatsächlich auch das Geschlecht. Selbst wenn wir einen Mann verkörpern, darf dieser weibliche Geschlechtsmerkmale aufweisen. Auch die Stimme ist unabhängig vom Aussehen. Wir begrüßen diesen Schritt, da Cyberpunk 2077 wunderbar zeigt, wie sehr die Entwickler auf konservative Vorstellungen pfeifen. Andere Entwicklerstudios dürfen sich aber nicht nur in diesem Punkt eine Scheibe von CD Projekt Red abschneiden. Das Rollenspiel bietet noch viel mehr Gründe dafür, wie ein Titel dieser Größenordnung im Jahr 2022 zu funktionieren hat. Kaum haben wir unseren Charakter erstellt, müssen wir uns für einen von drei Lebenswegen entscheiden. Wir haben die Wahl, ob wir als Nomade in der Wüste unser Dasein fristen, als Street Kid in den dunklen Ecken von Night City ums Überleben kämpfen oder als Konzerner ein kleines Rad im Getriebe des mächtigen Arasaka-Konzerns sind. Obwohl sich somit die ersten 30 bis 45 Minuten unterscheiden, hat unsere Wahl keine weitreichenden Folgen. Lediglich diverse Antwortmöglichkeiten stehen in Dialogen nur jeweils einer der Gruppierungen zur Verfügung.

Atemberaubendes Night City

Bis zum großen Finale haben wir also die Möglichkeit, wirklich alles von Night City, dem Handlungsort von Cyberpunk 2077, kennenzulernen. Wie das Abenteuer ausgeht, hängt aber stark davon ab, welche Menschen wir treffen und wie gut wir uns mit diesen stellen. Ausgehend von einem vermasselten Einbruch ins Hotel Konpeki Plaza lernen wir dutzende interessante Figuren kennen. Viele von ihnen begleiten uns sogar über mehrere Nebenquests hinweg, wenn wir uns mit ihnen anfreunden. Ein paar wenige lassen sich sogar in Romanzen verwickeln. Diese Charaktere haben alle ihre ausgeprägten Persönlichkeitsmuster und bei Interesse an Romanzen sogar eine sexuelle Orientierung. Macht ein heterosexueller V einer homosexuellen Dame Avancen, werden diese bei ihr einfach abprallen. Diese kleinen Details zeigen so gut, wie viel Arbeit in Cyberpunk 2077 steckt. Auch zu erkennen ist dies an der Ausgestaltung von Night City, wo an jeder Ecke Reklametafeln auf Produkte aufmerksam machen. Auf Monitoren werden wir wiederum von Werbung in audiovisueller Form beschallt. Noch dazu können wir über so genannte Splitter Informationen aufnehmen und im Radio den Nachrichten folgen, die teilweise auf aktuelle Geschehnisse oder Personen aufmerksam machen. Night City setzt sich mit all seinen tollen Facetten zu einem atemberaubenden Mosaik zusammen.

Johnny Silverhand als zweiter Akteur

Apropos atemberaubend: Als das Spiel am 19. Juni 2019 auf der Electronic Entertainment Expo genauer vorgestellt wurde, hat auch der kanadische Schauspieler Keanu Charles Reeves seinen Auftritt auf der Bühne gehabt und verkündet, dass er einen besonderen Auftritt in Cyberpunk 2077 hat. Dieser Auftritt zieht sich durchs gesamte Spiel! Seine Figur Johnny Silverhand wird unserem Protagonist quasi in den Kopf transplantiert, sodass wir immer wieder mit ihm interagieren können. Ständig hat er einen sarkastischen Spruch auf Lager und beleidigt andere am Gespräch beteiligten Personen oder sogar uns bewusst. In einigen bestimmten Stellen wird er sogar zum zweiten Protagonisten des Spiels. Genauere Details hierzu möchten wir aber nicht verraten, doch ist das Cyberpunk-Genre im Spiel wirklich Programm. Konzerne beherrschen die Welt, der Kapitalismus zeigt ungeschönt sein hässliches Gesicht und revolutionäre Hacker kämpfen dagegen an. Noch dazu dienen Implantate dazu, das eigene Leben zu verlängern und die Grenzen des Menschlichseins mehr und mehr zu verlassen. Das Beste daran ist, dass das Spiel all diese Sachen so gut wie nicht erklären muss. Wir werden in eine organische Welt geworfen, in der wir uns zurechtfinden müssen. Während wir anfangs davon vielleicht fast erschlagen werden, ergibt sich mit der Zeit ein richtig stimmiges Gesamtbild.

Charakterentwicklung als Spielwiese

Spielmechanisch setzt uns Cyberpunk 2077 mit seiner offenen Welt in einen Sandkasten. Wir können selbst entscheiden, in welche Richtung sich unser Charakter entwickelt. Für besiegte Gegner und abgeschlossene Quests erhalten wir Erfahrungspunkte, durch die wir im Level aufsteigen. Haben wir eine neue Stufe erreicht, erhalten wir einen Attributspunkt, die wir auf Konstitution, Reflexe, Technische Fähigkeit, Coolness und Intelligenz verteilen können. Je höher unser Wert in einem der fünf Attribute ist, desto mehr Fähigkeiten können wir im jeweiligen Bereich erlernen. Hierzu sind wiederum Fähigkeitspunkte vonnöten, die wir sowohl über Level-ups als auch genügend Training in Fertigkeiten wie Athletik oder Ninjutsu erhalten. Letzteres ist aber nur dann möglich, wenn wir die Attribute vorher entsprechend erhöht haben. Anfangs dürften sich Spieler von diesen Optionen durchaus überfordert fühlen. Mit der Zeit kristallisiert sich aber heraus, wie wir am liebsten spielen wollen. So können wir brachial mit Maschinenpistolen vorgehen, die Gegner heimlich, still und leise mit Würgegriffen ausschalten, die Umgebung per Hack zu einem tödlichen Gebiet machen oder auch ein Katana zum Enthaupten schwingen. Dennoch sollten wir uns relativ früh entscheiden, in welchem Fach wir wirklich gut sein wollen. Für alles reichen Attributs- und Fähigkeitspunkte nicht aus.

Transhumanismus

Haben wir genügend Eurodollars gesammelt, sprich unser Geldbörse aufgestockt, können wir uns bei den so genannten Ripperdocs auch mit Implantaten ausstatten lassen. Mit Gorillaarmen können wir beispielsweise fester zuschlagen. Doppelsprünge lassen sich mit verstärkten Sprunggelenken ermöglichen. Selbst Immunitäten, Zielerfassungshilfen und weitere Annehmlichkeiten lassen sich per Cyberware in unsere Körper integrieren und wahlweise sogar austauschen. Da wir uns früh im Spiel natürlich keine qualitativ hochwertigen Implantate leisten können, bietet es sich für uns an, dass wir uns auch mit weniger zufrieden geben. Zumindest fürs Erste, denn je mehr Zeit wir in Cyberpunk 2077 investieren, desto eher schwimmen wir in Geld. Mit erbeuteten Moneten können wir uns in den unterschiedlichen Stadtteilen von Night City auch Apartments mieten beziehungsweise erwerben und auch dutzende Fahrzeuge kaufen, mit denen wir von A nach B kommen. Für letzteres können wir uns aber auch wie in der Grand Theft Auto Trilogy ein vorbeifahrendes Vehikel schnappen und um seine Insassen erleichtern. Auch die Schnellreise ist in Cyberpunk 2077 an bestimmten Terminals möglich. Wir empfehlen jedoch, erst sehr spät davon Gebrauch zu machen, da Night City und die umliegenden Bad Lands auch beim wiederholten Male einen unvergesslichen Anblick bescheren.

Zwei Seiten des Gesetzes

Für eine offene Spielwelt bietet Cyberpunk 2077 vielleicht nicht viel Abwechslung abseits der schön gestalteten Nebenquests und angemessenen Hauptstory, aber dennoch können wir auch hier sehr viel Zeit versenken. Wir erhalten Aufträge, bei denen wir beispielsweise ein Attentat ausführen, die Zielperson entführen oder einen bestimmten Gegenstand erbeuten müssen. Da Night City mit Verbrechen überschwemmt wird, können wir auch kurzzeitig die Seiten wechseln und die Bandenkriminalität in Polizeieinsätzen bekämpfen. Dafür erhalten wir nicht nur Geld. Durchsuchen wir die Leichen und Leichenteile, können wir häufig auch ziemlich gute Waffen oder Kleidungsstücke erbeuten, von denen wir in sämtlichen Teilen des Spiels profitieren. Bewundern können wir unsere Rüstung aber nur im Spiegel, im Menü oder auf einem Motorrad, denn an fast allen anderen Stellen des Spiels erleben wir das Geschehen aus der Egoperspektive. Eine Verfolgeransicht gibt es meist nicht. Den Entwicklern war es offenbar wichtig, die Immersion so hoch wie möglich zu halten. Dieses Experiment ist den Entwicklern auch weitgehend geglückt, doch gerade beim Autofahren ist das Sichtfeld teilweise viel zu sehr einschränkt und da häufig sogar Rück- und Seitenspiegel fehlen, teils auch etwas unsinnig. Zum Glück können wir hier auf Knopfdruck auch zur Verfolgerperspektive wechseln.

Audiovisueller Genuss

In puncto Bedienung ist Cyberpunk 2077 jedoch ein zweischneidiges Schwert. Während die eigentliche Steuerung per pedes gut funktioniert, fällt gerade das Fahren je nach Fahrzeug und Geschwindigkeit zu schwammig aus. Auch die klar an einen Maus-Cursor angelehnte Menüführung ist auf Konsolen nicht tragbar. Japanische Rollenspiele bieten mehr Komfort. Unter technischen Gesichtspunkten ist der Titel zumindest im Performance-Modus gelungen. So gut wie immer hält das Spiel seine butterweichen sechzig Bilder pro Sekunde. Auch die Animationen der Figuren, besonders bei der Mimik, überzeugen uns. Schalten wir in den Raytracing-Modus läuft das Spiel jedoch nur noch mit dreißig Bildern und ruckelt an einigen Stellen für unseren Geschmack zu sehr. Zudem ist die Grafik nur bedingt hübscher, weshalb wir gleich zum Performance-Modus raten. Noch viel besser fällt die Akustik in Cyberpunk 2077 aus. Damit meinen wir nicht nur den eigentlichen Soundtrack und die Songs im Radio, sondern auch die Soundkulisse. Night City bringt Geräusche hervor, die uns Gänsehaut bescheren. Auch die deutsche Synchronisation ist gelungen. Reeves wird wie in seinen Filmen von Benjamin Völz gesprochen. Weitere prominente Sprecher wie Harald Effenberg und Santiago Ziesmer sind ebenso zu hören und hinterlassen wie das Spiel selbst einen bleiben Eindruck.

Geschrieben von Eric Ebelt

Erics Fazit (basierend auf der PlayStation-5-Fassung): Als Cyberpunk 2077 im Dezember 2020 erschien, habe ich kein großes Interesse am Titel gezeigt. Zu schwerwiegend waren für mich die Fehler, die hier in der Entwicklung seitens des Managements gemacht worden sind. Unfertige Spiele sind eine Katastrophe und sollten besonders bei größeren Entwicklerstudios längst der Vergangenheit angehören. Aufgrund zahlreicher Updates habe ich dem Spiel aber eine Chance geben. CD Projekt Red scheint tatsächlich aus den Fehlern gelernt zu haben. Bugs und Spielabstürze habe ich bei über einhundert Stunden, die ich in das Spiel gesteckt habe, nur sehr wenige erlebt. Beispielsweise konnte ich auf einmal nicht mehr speichern oder ein Event wurde nicht richtig ausgelöst. Durch Neuladen des Spielstands konnte ich jedoch alle Probleme lösen und im Angesicht der herausragenden Qualität an Story, Charakterzeichnung, Spielwelt und Gameplay würde ich das immer wieder gerne tun. Es ist fast schon unglaublich, wie nachvollziehbar die Charaktere gestaltet sind und welche Richtungen die einzelnen Geschichten je nach Entscheidung einschlagen können. Lediglich mit den verschiedenen Enden des Spiels bin ich nicht ganz zufrieden, was aber durchaus Geschmackssache sein dürfte. Auf jeden Fall habe ich Lust auf mehr. Egal ob es nun Erweiterungen oder Nachfolger sind. Cyberpunk 2077 ist eine kunterbunte Mischung aus Grand Theft Auto V, The Witcher III: Wild Hunt und Deus Ex: Human Revolution und zeigt mit seinen Anleihen an Filme wie The Matrix oder Blade Runner, was das Genre zu bieten hat und noch bieten könnte. Ich kann jedem Rollenspieler mit einem Faible für das Cyberpunk-Genre nur wärmstens empfehlen, sich die nötige Zeit zu nehmen, um den Titel durchzuspielen. Er ist einfach fantastisch!

Vielen Dank an CD Projekt für die freundliche Bereitstellung eines Rezensionsexemplars von Cyberpunk 2077!

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