2008 erhielt die Nintendo Wii einen ganz besonderen Eintrag in das Genre der Visual Novels. 428: Shibuya Scramble ist ein Mystery-Krimi, angesiedelt im Herzen Tōkyōs, der sich mit echten Videos und Fotografien von tatsächlichen Schauspielern und Umgebungen präsentiert.
Es sollte allerdings knapp zehn Jahre dauern, bis Spieler außerhalb Japans diesen Titel in die Finger bekommen. Genretypisch wird bei Visual Novels in der Regel auf gezeichnete, dreidimensional modellierte oder stark verfremdete Hintergründe und Charakterdesigns zurückgegriffen, in Shibuya Scramble sind jedoch Hintergründe Fotografien von realen Schauplätzen und Figuren tatsächliche Schauspieler. Obgleich der „Echtheit“ der Figuren sind die fünf Charaktere von Shibuya Scramble teils auch für das bunte und vielseitige Genre selbst einzigartig. Sie sind allesamt sympathisch und machen es leicht, sich in sie hineinzuversetzen – trotz der Überdrehtheit von Shibuya Scramble. Sei es der aufgedrehte Journalist Minoru oder das Maskottchen Tama, das in einem Katzenanzug gefangen ist. Anfänglich folgt jede Figur ihrem eigenen Plot, im Laufe der Handlung laufen diese Erzählstränge aber zu einigen Hauptthemen zusammen. Auch wenn es sich um eine Visual Novel handelt, bietet Shibuya Scramble dennoch einige Gameplay-Aspekte. Zum einen gibt es Momente mit mehreren Antwortmöglichkeiten, zum anderen muss der Spieler beim Lesen auf bestimmte Schlüsselwörter achtgeben. Diese Hinweise sind farblich markiert und deuten auf Verbindungen zwischen den Storylines hin. Ab und an kommt es vor, dass die Story erst fortgesetzt werden kann, wenn wir diese Überschneidungen aufdecken.
Interaktives Drama
Gelingt das nicht oder erreichen wir das Ende eines Kapitels, gibt es jedoch Tipps, die uns auf eine richtige Fährte locken, um mit allen fünf Figuren die Story parallel fortzuspinnen. Minoru erreicht zum Beispiel in einer kritischen Situation seinen Zielort nicht rechtzeitig, da sein Taxi vom jungen Detektiv Shinya aufgehalten wird. Springen wir jedoch in die Ansicht von Shinya und treffen eine Entscheidung, die ihn dazu bringt, das Taxi nicht aufzuhalten, kommt Minoru in der Story voran. So sind die Schicksale aller Figuren auf kreative Art und Weise miteinander verbunden und ihre einzelnen Handlungsstränge werden immer weiter miteinander verwickelt. Stadtteil Shibuya als Standort, in dem sich alle Figuren bewegen, bietet eine Menge Abwechslung und Platz für Geschichten über Kidnapping, mysteriöse Fitness-Drinks sowie gefährliche Killer-Viren. Der Spieler darf sich auf eine Menge gefasst machen! Dabei ist es nicht immer leicht, den Überblick zu behalten. Es gibt zwar eine Übersicht über die Zeitverläufe der einzelnen Ereignisse, aber nachdem auf mehreren Ebenen gleichzeitig auf Veränderungen geachtet werden muss und der Spieler die freie Wahl hat, zu welchem Ereignis er springen will, könnte zeitweilig Verwirrung auftreten. Dazu kommt es vor, dass gewisse Abschnitte ein zweites Mal gespielt werden müssen, um eine andere Entscheidung zu fällen. Eine rasche Vorspulfunktion fehlt hier leider. Dennoch sorgt dieses System, das circa alle zehn Minuten eine Interaktion vom Spieler fordert, für ein angenehmes Pacing.
Fotoshooting in Shibuya
Anders als wir es vielleicht erwarten würden, entkräften die Fotografien und Live-Action-Aufnahmen nicht die Ernsthaftigkeit der Handlung und Inhalte, sondern helfen dabei, die Figuren ebenso „realistisch“ wie ihre leibhaftigen Schauspieler-Vorlagen wirken zu lassen. Inszenatorisch bieten die Bilder und wenigen Animationen mehr Abwechslung, als es zu vermuten wäre. Zwar sind richtige Videosequenzen die Ausnahme, mit Zooms und Verschiebungen des Bildausschnitts kommt trotzdem eine schöne Bilddynamik auf. Wird zudem die Autoplay-Funktion aktiviert, kann sich der Spieler zurücklehnen und bequem der Story folgen. Auf eine Vertonung wurde sowohl auf Japanisch als auch auf Englisch komplett verzichtet, sodass das Lesen zur Pflicht wird. Außergewöhnlich ist, dass sich die Schrift über den gesamten Bildschirm erstreckt und nicht nur in einer Textbox am Bildschirmrand versauert. In Kombination mit den detailreichen – aber gräulichen – Umgebungen von Shibuya gehen manche Buchstaben der weißen Schrift wie in einem Wimmelbild verloren und erschweren das schnelle Lesen der Inhalte. Abhilfe schafft die Funktion, die Helligkeit der Bilder zu reduzieren, dafür wird der Beton von Tōkyō noch ein bisschen trister. Humor hat dennoch seinen festen Platz im Krimi von Shibuya Scramble, ist der ernsten Krimi-Handlung aber zu keiner Zeit im Wege.
Geschrieben von Jonas Maier
Jonas‘ Fazit (basierend auf der PlayStation-4-Fassung): 428: Shibuya Scramble ist auch im Jahr 2018 noch eine sehr gelungene Visual Novel, mit einer fast perfekten Balance aus gut geschriebener Handlung und kleinen Gameplay-Häppchen. Diese Mischung sorgt gepaart mit den interessanten Figuren sowie einer durchdachten Geschichte, die durch die innovativen Verknüpfungen an Besonderheit gewinnt, für ein fantastisches Spieltempo. Damit sind keine langfristigen Sessions nötig und Shibuya Scramble kann wunderbar zwischendurch genossen werden. Der Titel ist damit wie gemacht für Leute, die sonst keine Berührungspunkte mit japanischen Text-Adventures haben. Wer sich beim Weiterspielen allerdings zu lange Zeit lässt, dürfte Probleme haben, dem roten Faden der Story zu folgen. Das ist der kleine Haken an der ansonsten sehr wendungsreichen und rasanten Erzählung.
Vielen Dank an Spike Chunsoft für die freundliche Bereitstellung eines Rezensionsexemplars von 428: Shibuya Scramble!