Spannendes Ermitteln in einem Kriminalfall, tolles Charakterdesign in Doppel- und Dreifachrollen und eine Prise Mystery machen The Centennial Case: A Shijima Story zu einem echten Genuss. Fragt sich nur, ob das Spiel als Film oder Serie nicht besser funktionieren würde.
Erste Full-Motion-Video-Games, sprich Videospiele, die nahezu durchgehend aus gefilmtem Material bestehen, gab es bereits in den 1980er-Jahren in den Arcade-Hallen. Zu Beginn der 1990er-Jahre wurden sie durch die Einführung des Mediums CD-ROM massentauglich, auch wenn der Erfolg nicht jedem Spiel vergönnt war und die Qualität oft unter Laiendarstellern oder spielerischem Anspruch litt. Da ist es nicht verwunderlich, dass ein richtiger Boom des Genres ausblieb. Nach und nach wurden Filmsequenzen mit echten Schauspielern zwar in so mancher Videospielreihe wie Command & Conquer, Wing Commander oder sogar Need for Speed für wenige Teile aufgenommen oder damit experimentiert, doch eine Wiederbelebung des Genres wurde uns bis auf ein paar wenige Titel nicht beschert. Square Enix sah in der Vergangenheit keinesfalls tatenlos zu und nahm das von Entwicklerstudio h.a.n.d. stammende The Centennial Case: A Shijima Story ins eigene Portfolio auf. Beim Spiel handelt es sich weitestgehend um ein Full-Motion-Video-Game, setzt aber auch regelmäßig auf zahlreiche wie einfache Puzzle-Elemente. An einer Stelle fühlt sich der Titel sogar wie ein eher seichtes Point-and-Click-Adventure an. Für die Kriminalgeschichte haben sich die Entwickler an einem japanischen Setting orientiert. Japanophile Spieler werden sich hier direkt wohlfühlen.
Mysteriöser Kriminalfall, der die Zeit überdauert
Um auf Verbrecherjagd zu gehen, schlüpfen wir in die Rolle der aufstrebenden Krimi-Autorin Kagami Haruka. Bei einer Signierstunde wird diese von ihrem Freund Shijima Eiji aufgesucht und um Hilfe gebeten, ihn beim Lüften der Familiengeheimnisse zu unterstützen. Kurz darauf befinden wir uns auch schon auf dem Anwesen der titelgebenden Familie Shijima. Unter einem Kirschbaum, an dem eine besondere Familienzeremonie stattfinden soll, wurden kürzlich die skelettierten Überreste eines Menschen gefunden. Mit Hilfe ihrer Lektorin Yamase Akari versucht sie die Hintergründe des Fundes zu entschlüsseln. Dazu muss sie während der circa fünfzehnstündigen Reise respektive in sechs Kapiteln zuzüglich Prolog und Epilog über Fortsetzungsromane und Manuskripte in die Vergangenheit oder genauer gesagt in die Jahre 1922 und 1972 flüchten. Mit der Zeit müssen wir in Harukas Haut die Identität des Skeletts lüften und mehrere Morde auflösen, die in wundersamer Weise miteinander zusammenhängen. Des Weiteren dreht sich die Handlung um die ominöse Toki-Frucht, die angeblich Unsterblichkeit verleihen soll. So erzählt The Centennial Case: A Shijima Story nicht nur eine sehr spannende Kriminalgeschichte mit Mord und Totschlag, sondern reichert diese darüber hinaus mit einigen Mystery-Elementen an, sodass vielleicht auch das schier Unmögliche möglich sein kann.
Dreigeteiltes, aber eingängiges Abenteuer
Aufgeteilt ist das Abenteuer in drei elementare Bereiche. Im Szenarioteil wird im Grunde nur ein Film mit mehreren konsekutiven Szenen hintereinander abgespielt, der sich von der Laufzeit her fast schon wie die Episode einer Fernsehserie anfühlt. Diesen Film müssen wir aufmerksam beobachten und kleine Details einprägen. Besonders wichtige Details werden mit kurzen Hinweisen visualisiert und auf Knopfdruck übernommen. Für den zweiten Bereich des Spiels, dem Logikteil, ist dies aber kaum notwendig. Hier müssen wir auf einer langen Reihe von hexagonalen Feldern die richtigen Puzzle-Teile, sprich Rätsel und Hinweise, in epischer Breite zusammenführen. Für unseren Geschmack fällt gerade dieser Teil des Spiels zu eintönig und zu lange aus. Da es für jedes zu füllende Feld noch dazu nur ein passendes Puzzle-Teil gibt, können wir hierbei nie etwas falsch machen. Bestrafungen für falsche Versuche oder fehlende Verbindungen gibt es ebenso wenig. Trotzdem helfen uns die abzuleitenden Schlüsse im dritten Teil, der Auflösung, den Täter unter den Verdächtigen zu ermitteln. Hier wird erneut eine lange Filmsequenz abgespielt, die aber häufig unterbrochen wird, damit wir die richtigen Entscheidungen treffen können. Je nachdem an welcher Stelle wir falsch mit unserer Schlussfolgerung liegen, können wir sogar auf dem Game-Over-Bildschirm landen.
Knifflige und grandios inszenierte Überführung
So spannend die Geschichte auch ist, gerade im Umgang mit dem Weiterlaufen der Story hätten wir uns eine größere Varianz gewünscht. Klar, die Erzählung hat ein vordefiniertes Ende und es gibt manchmal auch leicht alternative Videosequenzen zu erleben, doch ist das in Anbetracht des ausufernden Logikteils keine wirkliche Entschädigung. Alle drei Teile des Abenteuers hätten in The Centennial Case: A Shijima Story wesentlich besser miteinander verzahnt werden müssen. Nichtsdestotrotz sitzen wir durchweg gespannt vor dem Bildschirm, um die Geschichte zu verfolgen. Diverse Story-Wendungen sind wirklich sehr überraschend, aber niemals weithergeholt. Bis auf das erste Kapitel, bei dem der Ablauf des Mordes wirklich nur auf diese eine Art geschehen kann und uns die Lösung noch vor der Deduktion klar ist, sind es gerade die letzten achtzig Prozent des Spiels, bei dem wir unsere grauen Gehirnzellen richtig anstrengen lassen müssen. Hier zählt wirklich jedes noch so kleine Detail. Wer die Morde ohne die Hilfe eines Walkthroughs lösen kann, sollte womöglich über einen Berufswechsel nachdenken. Für sein Debüt als Regisseur hat Itō Kōichirō mit Unterstützung von Produzent Tachibana Yasuhito, der vor The Centennial Case: A Shijima Story zuletzt an der japanischen Fernsehserie Der nackte Regisseur mitgearbeitet hat, eine sehr saubrere Leistung abgeliefert.
Erinnerungswürdige Schauspieler
Auch die Schauspieler sind gut gewählt, wobei sich eines besonderen Kniffs bedient wird. So sind die Hauptrollen auf allen Zeitebenen überwiegend mit denselben Schauspielern besetzt. Das erinnert an die Fernsehserie American Horror Story, bei der die Besetzung in jeder Staffel quasi wiederkehrend ist. Nahezu durchweg blicken wir in Gesichter, die uns mit der Zeit in unterschiedlicher Art ans Herz wachsen. Sakuraba Nanami, die nicht nur in Realfilmen, sondern auch als Stimme von diversen Anime-Figuren wie Shinohara Natsuki im Film Summer Wars überzeugt, sehen wir sowohl als Haruka in der Gegenwart als auch in der Rolle der jungen Shijima Yoshino im Jahr 1922. Yūta Hiraoka ist in der Rolle des Eiji als auch in der des Detektiven Kusaka Josui in Handlungssträngen der Vergangenheit zu sehen. Ebenfalls mit von der Partie sind neben einigen weiteren prominenten japanischen Darstellern Asakura Momo als Kanako, Kagawa Manao als Ayame Shijima und Sano Gaku als Eijis jüngerer Bruder. Jeder Darsteller setzt sich von seinen Pendants gekonnt ab. Insbesondere durch den mehrfachen Rollenwechsel entsteht regelrecht ein dynamisches Ensemble, das uns noch lange in Erinnerung bleiben wird. Um den Sachverhalt zu verdeutlichen, setzen sämtliche Darsteller von The Centennial Case: A Shijima Story übrigens auf übertriebene Mimik und Gestik.
Mehr Film als Spiel
Was manch ein Schelm als „typisch japanisch“ bezeichnet, ist unserer Meinung nach eher eine bewusste Entscheidung, damit wir Sachverhalte einfacher aufdecken können. Das klingt für den einen oder anderen möglicherweise etwas abschreckend, ist es aber keinesfalls. Eine andere Inszenierung können wir uns nicht vorstellen und in Anbetracht dessen, dass etliche Stunden Filmmaterial auf euch warten, sind kleinere Ausrutscher gerne zu verzeihen, sofern sie denn als solche von euch eingestuft werden. Aufgrund des Filmmaterials lässt sich die Grafik problemlos als fotorealistisch einstufen. Nur beim fünften Kapitel, das wie ein Point-and-Click-Adventure funktioniert, sticht die veraltete 3D-Grafik unschön ins Auge. Beim Logikteil hätten wir zumindest eine alternative und übersichtlichere Perspektive erwartet. Ansonsten werden alle gesammelten Hinweise, teils mit Videoschnipseln, im Menü fein säuberlich und optisch ansprechend aufgelistet. Mit Maus und Tastatur lässt sich der Titel wunderbar spielen. Wer einen Controller verwendet, hat höchstens mit einem zu lahmen Cursor zu kämpfen. Komponist Hayashi Yūki, bekannt für My Hero Academia, sorgt als Ausgleich mit seiner mitreißenden Musik für das richtige Krimi-Feeling. Als Film oder Serie hätte The Centennial Case: A Shijima Story unserer Meinung nach unterm Strich aber besser funktioniert.
Geschrieben von Eric Ebelt
Erics Fazit (basierend auf der PC-Fassung): The Centennial Case: A Shijima Story erzählt in meinen Augen eine wunderbare Geschichte mit vielen Wendungen, die selbst im Epilog noch wunderbar überraschen kann. Das liegt vor allem an den wunderbaren Schauspielern, die gleich in mehreren Rollen zu sehen sind. Letzteres wird sogar logisch im Spiel erklärt und erhöht damit noch einmal die Immersion, auch wenn ich in der Hälfte oder vielleicht sogar mehr als der Hälfte der Zeit nur einen in mehrere Episoden geteilten Film anschaue. So gut die Erzählung und die Charaktere auch für sich genommen funktionieren, trübt die hohe Qualität der Filmaufnahmen nicht über das unterdurchschnittliche Gameplay weg. Fehler sind so gut wie nicht möglich und auch die Story verläuft je nach getroffener Entscheidung schnell wieder auf die dafür vorgesehene Bahn. Mir hätte es deutlich besser gefallen, wenn die einzelnen Rätsel und Hinweise in einer anderen, vielleicht sogar intelligenteren Form ineinandergreifen würden. Vieles spielt sich einfach in meiner eigenen Vorstellung als auf dem Bildschirm ab. Auch wenn ich das Spiel mal für einen Tag pausiere, denke ich an die Geschichte und versuche mir einen Reim darauf zu machen, wie der letzte Mord geschehen konnte. Das schafft wahrhaftig nicht jeder Titel. Soll heißen, auch wenn das langatmige Gameplay eher Mittel zum Zweck ist und ich es kaum erwarten kann, die nächsten Filmsequenzen zu sehen, „spiele“ ich gerne bis zum Abschluss weiter. Nach dem Abspann bin ich mir aber sicher, dass es das um den Film drum herum gebaute Spiel nicht gebraucht hätte. The Centennial Case: A Shijima Story würde als langer Film oder kurze Serie mit ein paar zusätzlichen Szenen sehr viel besser funktionieren. Trotzdem: Wer auf der Suche nach einem Full-Motion-Video-Game ist, findet in The Centennial Case: A Shijima Story den wohl hochwertigsten Titel seiner Zunft.
Jonas’ Fazit (basierend auf der Switch-Fassung): The Centennial Case: A Shijima Story gefällt mir ziemlich gut. Ein Dorn im Auge sind mir nur die Gameplay-Passagen, in denen keine Detektivstimmung aufkommt, sondern sehr schnell Langeweile und Ungeduld. Da kommt natürlich die Frage auf, ob das Produkt als reine Miniserie nicht besser funktioniert hätte. So würde The Centennial Case allerdings von seinem Charme und seinen Meta-Elementen beim Ermitteln viel einbüßen. Das Spiel gefällt mir vielleicht auch deswegen, weil ich interaktive Filme kaum spiele. Damit wirkt The Centennial Case: A Shijima Story deutlich frischer, als es ein klassisches Detektivabenteuer je schaffen könnte. Trotzdem soll das nicht die Qualität der kompetenten Filmpassagen schmälern. Wer mit japanischer Medienkultur allerdings überhaupt nichts anfangen kann, wird mit dem Schauspiel, dem Setting und auch einigen erzählerischen Elementen Probleme haben.
Vielen Dank an Square Enix für die freundliche Bereitstellung eines Rezensionsexemplars von The Centennial Case: A Shijima Story!